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Dr. Holger Hettinger | Deutschland Radio Kultur – Berlin | 2009

Die Kraft des Beiläufigen

Dr. Holger Hettinger | Deutschland Radio Kultur - Berlin

Finger, die irgendetwas zu erklären scheinen – Berührungen, beiläufig –verschränkte Beine – laszives Räkeln oder Gesten der Ruhe, der Kontemplation, der Erschöpfung. Aber es fehlen die Gesichter. Und doch: trotz – oder gerade wegen? – der Abwesenheit des Portraits auf Judiths Bildern wirken ihre Arbeiten sehr persönlich, nah, intim. 

Judith Sturm gelingt es, diese Frauen für uns zu beobachten, und sie gleichzeitig „unbeobachtet“ darzustellen, so persönlich sind die Gesten, so  selbstvergessen, so natürlich, so weiblich. So beiläufig. Das ist sehr viel, in einer Zeit, in der Pathos, zielgenaue Inszenierungen und die Wucht der großen Geste regieren. Die Figuren in ihren Bildern scheinen zu schweben - es gibt keinen gewohnten Hintergrund, kein Bezugssystem. Ihre Malerei konzentriert sich auf Körper, weibliche Körper - meist in kurze Kleider gewandet. Die Figuren zeigen viel Haut und die Kleidung sowie Hintergründe bekannte Muster: große Punkte und kleine, Streifen und Leopardenfell. Die intensiven Arbeiten von Judith Sturm beziehen ihre Wirkmächtigkeit aus der kleinen, beiläufigen Geste. 

Ihre Leinwandarbeiten wirken trotz des oft beträchtlichen Formats kammermusikalisch, bieten eine vertraute Nahsicht. Es sind Momentaufnahmen, subtil und kristallin, kraftvoll, doch nicht pathetisch. Die Figuren sind ganz bei sich und bei ihrer Weiblichkeit; sie bilden ihr eigenes Bezugssystem. 

Die Stärke ihrer Arbeiten liegt im völlig undidaktischen Charakter. Statt laut vorgetragener „Kritik“ – woran auch immer -, statt mit großer Geste inszenierte Utopie, beleuchtet Judith die Kraft des Beiläufigen im Hier und Jetzt. Sie schildert die Entdeckung des Anderen im unmittelbar Gegenwärtigen. Die kleinen Gesten, die selbstvergessenen Berührungen, die sie großformatig darstellt, nisten sich in den Regionen des Unbewussten ein, in den Unterwelten des Wunsches und der Begierden.

Es mag etwas zu entlegen gedacht sein, aber es stellt auch eine Art Selbstgefährdung dar, sich auf diese Kunstwirkung einzulassen. Akzeptiert man das Bild als Kräftefeld der Selbstmitteilung, dann verschwindet die  tradierte Vorstellung vom autonomen, „gelungenen“ Kunstwerk ebenso, wie das Bild vom selbstgewissen Individuum. Das Individuum erscheint als Feld, als ein Strahlenbündel von Möglichkeiten, als eine Vielheit ohne Zentrum. Der Mensch ist ein Energiefeld, die Gesten stehen für die wohldosierte Mitteilung der Energien. Die Figuren sind ganz bei sich, kein Beleg für irgendwelche Ideen oder Intentionen. Die Künstlerin verschwindet im Werk, das Werk im Betrachter. Und das ist schön so.

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